Armut trotz Wohlstand: Gerechtigkeit als Thema in Gottesdienst und Vortrag zum Buß- und Bettag in Bad Nauheim

veröffentlicht 24.11.2025 von Anna-Luisa Hortien, Evangelisches Dekanat Wetterau

Das Evangelische Dekanat Wetterau und die Evangelische Kirchengemeinde Bad Nauheim und Ober-Mörlen stellten am Buß- und Bettag das Thema Gerechtigkeit in den Mittelpunkt.

Unter dem Titel „Reich beschenkt und trotzdem arm“ luden sie dazu ein, über Armut und Reichtum ins Gespräch zu kommen. Auf den Gottesdienst in der Dankeskirche folgte ein Vortrag von Dr. Wolfgang Kessler, der das Thema anschließend im Gespräch mit Dekan Volkhard Guth vertiefte.

Zunächst begrüßte Vikarin Melissa Kaufmann die Gäste und betonte, dass Gerechtigkeit jeden etwas angehe. In seiner Predigt zeigte Wolfgang Dittrich, Referent für Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Wetterau, auf, dass trotz des großen Wohlstands in Deutschland die Armut zunimmt – besonders bei Kindern und älteren Menschen.

Gerechtigkeit als Beziehungsbegriff

Dittrich betonte, dass Gerechtigkeit in der Bibel ein Beziehungsbegriff sei: „Sie entsteht dort, wo Menschen über das eigene Leben hinausblicken und einander wahrnehmen.“

Jesus habe sich den Armen und Entrechteten zugewandt und deutlich gemacht, dass der Wert eines Menschen nicht von Besitz oder sozialer Stellung abhängt. Das Gleichnis vom reichen Kornbauern verdeutlicht, dass Reichtum, der nur dem eigenen Vorteil dient, zu Beziehungslosigkeit führt, da bei ihm kein Platz mehr für Gott und den Nächsten ist. Dazu zitierte er den früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm, der sagte, dass ein christliches Verständnis von Gerechtigkeit eine vorrangige Option für die Schwachen bedeute – solange, bis alle am Wohlstand teilhaben können.

Gemeinwesenorientierte Ausrichtung

Kirche müsse sich gemeinwesenorientiert ausrichten und die Stimme erheben, wo es nötig sei. Im Dekanat geschehe das etwa mit dem Gemeinsamen Mittagessen oder mit dem Bündnis Soziale Gerechtigkeit. „Wir alle sind aufgefordert uns umzuschauen und zu erkennen, wo wir selbst etwas tun müssen, damit es gerechter wird“, so Dittrich.

Dittrich betonte, dass es nicht ausschließlich um eine materielle Verteilungsgerechtigkeit gehe. „Aber ohne sie ist keine Teilhabe und Chancengleichheit, etwa beim Thema Bildung, möglich.“

„Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“, zitierte er abschließend aus den Sprüchen Salomos (14,34). „Nicht wirtschaftliche Kennzahlen bestimmen also den Wert eines Volkes, sondern seine Gerechtigkeit.“ Ungerechtigkeit hingegen führe zu Unfrieden und damit zum Verderben einer Gesellschaft. 

Kluft zwischen Arm und Reich wächst

„Eine offene, differenzierte Diskussion über Armut und Reichtum darf kein Tabu sein“, betonte Dr. Wolfgang Kessler zu Beginn seines Impulsvortrags. Der Sozialstaat verhindere die schlimmste Armut. „Doch die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gefährdet den Zusammenhalt, die Wirtschaft und die Demokratie“, so der Publizist und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Dies sei das Ergebnis des neoliberalen Denkens in Ökonomie und Politik der vergangenen Jahrzehnte, mit Steuer- und Rentensenkungen sowie dem Aussetzen der Vermögenssteuer.

Die Gesellschaft sei zunehmend zerrissen und Vermögen sowie Erbschaften seien sehr ungleich verteilt. Die Tafeln verzeichnen einen immer größer werdenden Andrang. Es herrscht Ungerechtigkeit im Bildungssystem und Angst vor hohen Pflegekosten im Alter. Auch die Wirtschaft leidet: Vermögen fließt zunehmend in Spekulationen statt in Investitionen. Kessler warnte zudem vor dem Einfluss reicher Konzerne, Investoren und Finanzlobbys auf die Politik. „Diese Entwicklung ist bedrohlich. Deshalb müssen wir uns trauen, Reichtum gerechter zu verteilen.“

Nachbarländer als Vorbilder

Kessler schlägt vor, sich an Nachbarländern zu orientieren. Etwa an der Steuerpolitik in der Schweiz und an einer gerechten Gesundheits- und Altersvorsorge nach dem Modell Österreichs. Zudem sei Deutschland ein Geldwäscheparadies.

Die aktuelle Übergangsgesellschaft schaffe Angst und Unsicherheit, wodurch der Rechtspopulismus blühe. Kessler fordert deshalb: „Mehr Gerechtigkeit für alle.“

Echte Gerechtigkeitsdebatte fehlt

Im anschließenden Gespräch lenkte Dekan Volkhard Guth den Blick noch einmal auf die Frage, wie man zu einer echten Gerechtigkeitsdebatte komme. Beide waren sich einig, dass zwar viel über Armut, aber kaum über Reichtum gesprochen wird – auch innerhalb der Kirche. Kessler wünschte sich deutlichere Stellungnahmen leitender Geistlicher. Zudem fehle eine starke Jugendbewegung, die das Thema offensiv einfordere. „Wenn ich mit Leuten diskutiere, dann spüre ich: Sie wollen Gerechtigkeit – aber vor allem für sich“, resümierte Kessler. „Ich würde mir eine echte Gerechtigkeitsbewegung wünschen, ähnlich wie beim Klimaschutz.“

Danach waren alle eingeladen die Gespräche bei Wein und Snacks zu vertiefen.