Unter dem Titel „Wenn Steine sprechen (könnten)“ hatte das Geistliche Zentrum Nieder-Weisel zu einem knapp dreistündigen Spaziergang durch den Ort eingeladen. Die Veranstaltung bildet einen Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog – getragen von dem Wunsch, Begegnung und das gegenseitige Verständnis zu vertiefen, wie Johannes Misterek, Pfarrer am Geistlichen Zentrum in der Begrüßung betonte.
Gemeinsam mit den rund 25 Teilnehmenden begaben sich Chasan Leah Frey-Rabine und Pfarrer i. R. Matthias Gärtner auf Spurensuche. Unterstützt wurden sie dabei von Heimatforscher Alfred Zitzwarek. Ausgehend von der Komturkirche ging es durch den alten Dorfkern zunächst zum Alten Rathaus und dem Marktplatz mit Blick auf die evangelische Pfarrkirche. Vorbei an Häusern, in denen einst jüdische Menschen lebten und arbeiteten, führte der Weg über die Stelle der ehemaligen Synagoge in der Weingartenstraße sowie den jüdischen Friedhof und schließlich zurück in die Komturkirche.
Wie aus einer Festschrift des Nieder-Weiseler Gesangvereins hervorgeht, müssen bereits 1723 jüdische Familien in Nieder-Weisel gelebt haben. „Der älteste urkundliche Nachweis einer jüdischen Gemeinde stammt ungefähr von 1840“, erläuterte Matthias Gärtner. 1830 haben 67 Juden in Nieder-Weisel gelebt, 1861 waren es 104 Personen und damit rund fünf Prozent der Bevölkerung. 1933 seien es dann noch zehn Familien gewesen, so Matthias Gärtner. Nach 1933 sei ein Teil auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. Drei Personen emigrierten in die USA, sieben nach Argentinien, drei nach England. 1939 lebten noch 12 jüdische Personen in Nieder-Weisel. „Insgesamt weiß man von über 30 in Nieder-Weisel geborenen bzw. längere Zeit am Ort wohnenden Juden, die in der Zeit des Nationalsozialismus in Vernichtungslagern ermordet wurden.“
In der Weingartenstraße erfuhren die Teilnehmenden von der 1835 geweihten Synagoge mit angeschlossener Mikwe, die der spirituellen Reinigung dient. In der Pogromnacht 1938, bei der SA-Leute das Gebäude verwüsteten, verhinderten Nieder-Weiseler Bürgerinnen und Bürger, dass das Gebäude in Brand gesetzt wurde, da sie eine Feuerkatastrophe im engen Ortskern fürchteten. Die Tora sowie weitere heilige Gegenstände wurden verbrannt. Auf dem Gehweg erinnern vier sogenannte Stolpersteine, von dem weltweit bekannten Initiator dieser Gedenksteine, Gunter Demning, vor wenigen Jahren eingesetzt, an die hier einst wohnende Familie Goldschmidt. Von ihr gelang nur einer Person die Flucht 1937 in die USA. Die anderen kamen 1942 in Theresienstadt und Ausschwitz um.
Auf dem jüdischen Friedhof sind nur Nieder-Weiseler Juden beerdigt. Es sind noch rund 75 Grabsteine erhalten. Dort sprach Leah Frey-Rabine die entsprechenden Gebete. „Wir können die Vergangenheit nicht ändern“, betonte die jüdische Kantorin, „aber wir haben die Pflicht in der Gegenwart gemeinsam auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten.“
Der Rundgang endete in der romanischen Komturkirche mit einem gemeinsam gesungenen Psalmgebet – als Zeichen der Verbundenheit und des Respekts zwischen den beiden Geschwisterreligionen. Als Anerkennung für ihr Frieden stiftendes Engagement überreichte Pfarrer Misterek Chasan Leah Frey-Rabine und Matthias Gärtner jeweils ein Olivenbäumchen. Dabei wurde auch deutlich, wie sehr der Dialog vom Fragen lebt – wie Leah Frey-Rabine betonte: „Das Fragen zeichnet das Judentum aus. Fragen bringt Menschen miteinander ins Gespräch.“