Wie sieht jüdisches Leben in Deutschland heute aus? Dieser Frage widmet sich ein Podiumsgespräch mit Konzert am Dienstagabend ab 19 Uhr im Geistlichen Zentrum der Johanniter Nieder-Weisel. Chasan Leah Frey-Rabine (jüdische Kantorin) ist eine der Podiumsgäste, die aus ihrem vielfältigen, jüdischen Alltag erzählen und Fragen des Publikums beantworten werden. Sibylle Wolf ist Teil des Klavierduos Bodnárová+Wolf, die zwischen den Wortbeiträgen Werke von 7 jüdischen Komponisten und Komponistinnen präsentieren. Im Interview erzählen beide vom jüdischen Leben in Deutschland – damals und heute.
Frau Frey-Rabine, was bedeutet jüdisch sein heute in Deutschland?
Das ist genauso vielfältig, wie die Menschen selbst. Es gibt Leute, die streng orthodox leben und das prägt das ganze Leben: Was sie essen, was sie an welchen Tagen tun. Und dann gibt es diejenigen, die voll assimiliert sind, die ihr Jüdischsein, besonders in der heutigen Zeit, eher nur zuhause leben. Das kann man nicht verallgemeinern. Ich bezeichne mich selbst als egalitär.
Wo liegt ihre Heimat?
Ich bin Diaspora-Jüdin, besuche Israel gern, aber möchte da nicht wohnen. Ich komme aus den USA, bin seit 1971 in Deutschland. Und ich freue mich auf den Tag, an dem ich endlich die doppelte Staatsangehörigkeit haben kann. Ich hoffe, dass das bald in Erfüllung geht. Ich behalte meine amerikanische Staatsangehörigkeit, weil ich dort wählen will. Es ist meine Pflicht. Aber ich möchte auch hier wählen können. Ich habe eine Heimat in der Welt der Oper. Ich habe eine Heimat in der jüdischen Welt. Ich habe eine Heimat in Minnesota, wo ich herkomme. Ich habe eine Heimat hier in der Wetterau, wo ich gerne lebe. Ich bin zuhause in unterschiedlichen Welten, und das ist gut so.
Wie ist Ihre Rolle als Frau im Judentum?
Das kann man auch nicht verallgemeinern. Männer haben im orthodoxen Judentum viele religiöse Pflichten, die Frau nicht. Im konservativen und liberalen Judentum können Frauen Rabbinerin werden - also genau wie ich Kantorin, denn sie haben die gleiche religiöse Funktion wie ein Mann. Aber historisch haben die Frauen natürlich die klassischen Aufgaben, mit Haushalt und Kindererziehung. Manche Frauen bleiben zuhause, aber es gibt auch viele die arbeiten. Wir haben alle möglichen Berufe, in wirklich jeder Sparte des Lebens sind jüdische Frauen zu finden.
Der Schabbat ist im Judentum der siebte Wochentag, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Er beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend. Welche Bedeutung hat der Schabbat im Judentum?
Der Schriftsteller Ahad Ha’am (Asher Zvi Hirsch Ginsberg 1856-1957) schrieb einmal: Viel mehr als die Juden Schabbat gehalten haben, hat Schabbat die Juden gehalten. Es ist eine Auszeit. Man darf nicht arbeiten, das heißt keine schöpferische Arbeit tun, wie werkeln, Geschäfte nachgehen, fahren. Aber alle Verbote werden aufgehoben, um Leben zu retten, denn das Erhalten des Lebens hat immer Priorität. Das Wort für diese Art von Gesetz ist halacha, aus der hebräischen Wurzel für gehen, denn das Gesetz muss Zeit und Ort angepasst werden. Bei den nicht-orthodoxen Strömungen ist es weniger streng, etwa beim Fahren. Weil viele Leute nicht mehr in der Nähe ihrer Synagoge wohnen, darf man zur Synagoge fahren, aber nur dorthin und dann wieder nach Hause, nicht unterwegs einkaufen, o.Ä. Ich mache am Schabbat nichts Geschäftliches, gebe keinen Gesangsunterricht. Ich lese keine Emails. Ich klinke mich einfach aus. Man kann nicht nur arbeiten, man braucht auch Zeit für sich. Das ist sehr wichtig, um Kraft zu schöpfen.
Können Sie die eben angesprochene Vielfalt im Judentum noch näher charakterisieren?
Glaube und Religion werden immer gleichgestellt. Das stimmt im Judentum gar nicht. Jüdisch sein ist Zugehörigkeit, basiert auf Erinnern. Allgegenwärtig in der Liturgie ist das Erinnern an das Sklaven- und Fremdensein in Ägypten. Demzufolge liegt der Schwerpunkt darauf, wie man sich benimmt, wie man sich in der Welt positioniert. Die Christen haben zwei Glaubensbekenntnisse. Wir haben gar keins. Man kann sogar Atheist sein und trotzdem Jude. Es ist ein breites Spektrum: Die streng Orthodoxen auf der einen Seite. Dann gibt es sehr, sehr, sehr viel in der Mitte. Und auf der anderen Seite sind die Agnostiker und Atheisten. Manche wissen nicht einmal, wann die Feiertage sind. Andere feiern Pessach und Chanukka, sind aber überhaupt nicht religiös. Judentum ist eben vielfältig.
Was tun Sie, um die jüdische Identität zu bewahren, sie weiterzutragen?
Wer zumindest ein bisschen jüdische Erziehung genossen hat, hat sozusagen ein jüdisches „Betriebssystem“. Daher ist das Übertreten so schwer. Denn was uns ausmacht, ist, wie gesagt, die Erinnerung. Wir haben eine Geschichte, die Tausende von Jahre zurückgeht. Im Schma Jisrael (wichtiges Gebet) heißt es zweimal: „Lehrt es euren Kindern.“ Wiederholt es immer wieder, nicht nur durch Reden, sondern in dem, was ihr tut. Gebt es den Kindern weiter, sodass es zur Gewohnheit wird, damit sie es auch wieder ihren Kindern lehren.
Unsere Identität entstand durch Abertausende Generationen. Das kann man nicht lernen. Ich bewundere die „Seiteneinsteiger“. Ich finde es großartig, aber es wird einem bewusst nicht leicht gemacht, weil es mehr ist, als ein paar Kerzen anzuzünden am Feiertag. Es ist schwer zu beschreiben, aber für die Meisten gleicht es in der Tat einem Betriebssystemwechsel. Es ist nämlich eine Denkweise, eine Identität, die nicht nur das äußere Leben, sondern das innere prägt.
Frau Wolf, bei der Veranstaltung am Dienstagabend werden neben den Statements der Podiumsgäste Werke von Komponisten jüdischer Herkunft zu hören sein. Was zeichnet diese aus?
Sie alle haben eine exzellente Bildung und Ausbildung. Schwierig waren ihre Lebensumstände. Dadurch, dass sie jüdisch waren, wurden sie zum Beispiel bei Bewerbungen abgelehnt und die Verbreitung ihrer Musik wurde zum Teil unterminiert. Bei Friedrich Gernsheim ist es so gewesen, dass die Nationalsozialisten seine komplette Biografie und auch seine Werke vernichtet haben. Deswegen sind sie heute so unbekannt. Für uns ist interessant, wie die Menschen mit ihrer Situation umgegangen sind. Die einen sind aufgrund eben dieser Schwierigkeiten sehr jüdisch geworden, andere wollten sich assimilieren, das jüdische aufgeben, Teil dieser deutschen Gesellschaft sein. Man sieht durch die Epochen hindurch, wie tief verwurzelt der Antisemitismus in unserer deutschen Geschichte ist. Schon weit vor den Nationalsozialisten.
Wie haben Sie die Auswahl der 7 Komponisten, darunter zum Beispiel die Geschwister Fanny und Felix Mendelssohn. getroffen?
Das war gar nicht so leicht. Es sollten klassische Komponisten sein, die etwas mit Deutschland zu tun haben. Wir haben geschaut, welche Aspekte ihres Lebens, ihres Wirkens zum Thema unseres Diskussionsabends passen. Wir wollten verschiedene Epochen abdecken und es mussten Kompositionen sein, die wir als Klavierduo spielen können. Dann ist da noch die Frage, ob die Noten verfügbar sind. Denn wenn der Großteil vernichtet worden ist, ist es unglaublich schwierig, an Noten heranzukommen. Wir hätten eigentlich gerne von Gernsheim einen anderen Zyklus gespielt, die fünf Tongedichte. Aber die Noten sind unauffindbar.
Das Veranstaltungsformat gab es im Herbst vergangenen Jahres bereits in Dortelweil. Sie haben die Veranstaltung mit initiiert, sind auch jetzt wieder in die Vorbereitung eingebunden. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?
Ich habe bereits 2019 gemeinsam mit Claudia Taphorn vom Wetteraukreis überlegt, welche Themen zu so einem Veranstaltungsformat – Konzert mit gesellschaftspolitischem Diskussionsabend – passen könnten, und Integration jüdischen Lebens in Deutschland ist ein zentrales gesellschaftliches Thema, schon allein wegen unserer historisch bedingten Verantwortung. Die jüdische Musik hat mich persönlich deswegen interessiert, weil man ganz wenig drüber weiß. Und weil das jüdische Leben in Deutschland, das haben wir dann plötzlich festgestellt, quasi unsichtbar ist. Wir haben uns gefragt, warum. Hat es wirklich nur mit dem Holocaust zu tun? Oder was sind die tieferen Gründe? Wir sind auf die Suche gegangen, haben Ausstellungen besucht und uns mit dem jüdischen Leben auseinandergesetzt.
Tiefere Einblicke in das vielfältige jüdische Leben und die Möglichkeit, eigene Fragen zu stellen gibt die Veranstaltung „Jüdisches Leben heute“ am Dienstag, 19 März ab 19 Uhr. Das Geistliche Zentrum der Johanniter Nieder-Weisel im Evangelischen Dekanat Wetterau und der Fachdienst Frauen und Chancengleichheit des Wetteraukreises laden zu Podiumsdiskussion und Konzert in das Geistliche Zentrum der Johanniter in Butzbach-Nieder-Weisel ein (Zugang über JohanniterHOTEL, Hoch-Weiseler-Weg 1a). Der Eintritt ist frei.