Für 56 Prozent der Deutschen spielt Religiosität im eigenen Leben keine Rolle. Das hat die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ergeben. Bei der Frage, ob sich die Kirchen grundlegend verändern müssen, wenn sie eine Zukunft haben wollen, ist die Zustimmung allerdings sehr deutlich. Sowohl Kirchenmitglieder als auch Konfessionslose erwarten von der Kirche ein soziales Engagement, das über den Bereich des Religiösen hinausgeht. Was bedeuten diese und weitere Erkenntnisse für das Evangelische Dekanat Wetterau? Dekan Volkhard Guth im Interview.
Frage: Was bedeutet die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung für Sie als Dekan im Ev. Dekanat Wetterau?
Volkhard Guth: Es ist die erste Mitgliedschaftsstudie, die beide Konfessionen erfasst. Also auch die Aussagen und Ansichten der katholischen Gemeindeglieder. Neben den jeweils eigenen konfessionellen Themen lassen sich auch gemeinsame gesellschaftliche Trends ersehen, die die Institution Kirche generell betreffen. Für unsere Überlegungen, wie Kirche sich als Organisation in den nächsten Jahren aufstellen muss, sind diese Ergebnisse wichtig. Z.B. die Antworten auf die Fragen, wem unsere Mitglieder am ehesten Vertrauen schenken, oder wie sie ihren eigenen Gottesglauben verstehen. Was das Christliche mit Jesus zu tun hat, wie sie zum Beten oder zur Bibel stehen. Und vor allem die Tatsache, dass die Befragten strukturelle Veränderungen wollen.
Musste erst so eine Studie kommen, damit sich in der evangelischen Kirche etwas tut?
Guth: Nein, wir beschäftigen uns schon länger mit einem Transformationsprozess, genannt „ekhn 2030“. Wir sind nicht blind und haben in den zurückliegenden Jahren die Veränderungen aktiv wahrgenommen. In unserem Dekanat haben wir bereits 2017 – im 500. Jahr der Reformation – begonnen, Veränderungen einzuleiten. Wir haben die sinkenden Mitgliederzahlen betrachtet, haben Hochrechnungen angestellt – aktuell bis 2029. Inzwischen sprechen wir bewusst von einem Transformationsprozess. Das meint deutlich mehr, als strukturelle Anpassungen. Die Studie bestärkt uns in dem, was wir begonnen haben, konsequent weiter zu machen.
In welchen Bereichen erwarten uns Veränderungen in den kommenden Jahren?
Guth: Die Veränderungen sind so umfassend, wie es uns die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen aufgeben. Wir müssen die Anzahl der Pfarrstellen reduzieren. Das ist ein Anpassungsprozess an schwindende Mitgliederzahlen. Wir haben im Evangelischen Dekanat Wetterau 7 Nachbarschaftsräume gebildet, innerhalb derer die Gemeindebüros zusammengelegt werden. Das schafft Synergien und eine bessere Ansprechbarkeit. Wir haben alle unsere Gebäude innerhalb des Dekanats in den Blick genommen und kategorisiert, mit der Überlegung: Was können und was wollen wir uns künftig noch leisten und wozu?! Wir nehmen in den Nachbarschaftsräumen künftig die Angebotsstruktur in den Blick und schauen einmal auf alle Bereiche drauf. Das betrifft auch Kitas und diakonische Einrichtungen.
Wie sehen die Veränderungen im Personalbereich konkret aus?
Guth: Grundsätzlich müssen wir hier am schärfsten nach unten anpassen. D.h., es werden weniger Pfarrstellen und damit auch weniger Pfarrerinnen und Pfarrer eingesetzt. Gleichzeitig fassen wir die Hauptamtlichen, sprich Pfarrpersonen, Kirchenmusiker*innen und Gemeindepädagog*innen, zu sogenannten Verkündigungsteams zusammen. Pfarrerinnen und Pfarrer tun ihren Dienst nicht mehr in einzelnen Gemeinden, sondern die Teams verantworten den Dienst im jeweiligen Nachbarschaftsraum. Das bedeutet, dass die Aufgaben gemeinsam betrachtet werden sollen und untereinander zugeteilt werden. Gleichzeitig muss gewährleistet sein, dass für die Gemeindeglieder klar ist, wer für sie - beispielsweise in Seelsorgeangelegenheiten - zuständig ist. Und nicht zu vergessen: Den Fachkräftemangel haben wir auch bei evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrern. Es fehlt der Nachwuchs, den wir in 5 Jahren ganz dringend bräuchten. Das ist eine Herausforderung für unsere Hauptamtlichen. Die bisherigen Aufgabenzuschreibungen und Rollenbilder gelten nicht mehr. Routinen und bisher Gewohntes tragen bisweilen auch nicht mehr durch. Es ist eine „Operation am offenen Herzen“, die allen Beteiligten alles abverlangt.
Wie werden sich die Gemeindebüros und damit die Ansprechbarkeit verändern?
Guth: Die Verwaltung innerhalb eines Nachbarschaftsraums wird in den nächsten 18 Monaten zusammengelegt. Ein Gemeindebüro ist erst einmal eine Verwaltungseinheit und muss funktionieren und Service bieten. Wir stellen fest, dass die Zusammenlegung uns näher an die Leute bringt. Das klingt paradox, ist aber so. Wir fassen die Büros zusammen und bekommen so eine viel höhere Wochenöffnungszeit. Endlich werden wir auch für Berufstätige ansprechbar. Unsere Sekretärinnen erarbeiten als Team die Verteilung des Aufgabenkatalogs. Mit der Folge einer deutlich höheren Berufszufriedenheit. Und viele haben erstmals eine Vertretung. Das gab es ja in den kleinen Gemeindebüros gar nicht. Da blieb die Arbeit dann oft liegen oder wurde von Ehrenamtlichen erledigt - oder von den Pfarrpersonen. Und die hatte dann keine Zeit für ihre eigentlichen Dienste. Das wird künftig deutlich besser und auch effizienter.
Wie sieht es mit den Gebäuden aus?
Guth: Wir haben heute den gleichen Gebäudebestand wie vor 40 Jahren. Im selben Zeitraum aber haben wir jährlich zwischen 1,5 und zuletzt 3 Prozent an Mitgliedern „verloren“. Im Wesentlichen eine Folge der Demografie. Damit ist klar, dass wir aus gesamtkirchlicher Perspektive zu viele Gebäude haben. Das stellt die Frage nach der Finanzierung einerseits; wir haben auch ermittelt, dass viele Häuser gar nicht mehr so genutzt werden, wie oft gedacht oder behauptet. Die Synode des Dekanats wird daher im März beschließen, welche Gebäude künftig weiter wie bisher finanziert werden sollen, wo wir künftig nur noch mit gesamtkirchlichen Geldern darauf achten, dass die Dächer und die Außenhaut der Gebäude in Ordnung sind, und wo künftig Häuser garnicht mehr durch die Landeskirche finanziert werden. Diese Gebäude können weiterhin genutzt werden, müssen jedoch von den Gemeinden vor Ort bzw. im Nachbarschaftsraum finanziert werden. Das wird auf Dauer nicht überall gelingen. Wir stehen also vor einem schmerzhaften Abschiedsprozess, denn diese Gebäude der von uns sogenannten Kategorie C umfassen Gemeindehäuser, Pfarrhäuser und in wenigen Einzelfällen sogar auch Kirchgebäude.
Wie geht es denn dann mit den konkreten Angeboten vor Ort weiter?
Guth: Noch sind ja nicht alle Gebäude weg, nur, weil sie kategorisiert sind. Aber wir werden uns in einen Veränderungsprozess begeben. Hauptamtliche und Ehrenamtliche können nicht mehr an allen Orten alles anbieten, wie bisher gewohnt. Wir begeben uns aufeinander zu. So wie sich Menschen auch sonst in ihrer Freizeit auf den Weg machen, um einander zu treffen, so werden das künftig auch evangelische Christen tun, wenn sie eine Veranstaltung besuchen oder Mitchristen treffen wollen. Wir nehmen diese Herausforderung an. Es ist doch eine schöne Erfahrung, am Sonntag Gottesdienste in größerer Zahl zu feiern, beim Pilgern bekannte Gesichter vom letzten Mal zu treffen und Gemeindefeste als Nachbarschaft zu feiern. Wir verändern Gemeindekultur. Weil uns nichts anderes übrig bleibt und (!) weil wir es wollen. Und wir beginnen neue Arbeitsformen, die auf feste Orte gar nicht mehr angewiesen sind. Das hat in der ersten Welle der Coronapandemie geklappt und das geht auch weiterhin. Oder wir machen etwas komplett Neues und Ungewohntes. Wir haben als Dekanat beispielsweise einen Foodtruck angeschafft und werden rausfahren! Lassen Sie sich überraschen!
Kommt Kirche bei so viel Strukturveränderung denn noch ihrem Auftrag nach, bei den Menschen zu sein?
Guth: Es ist eine große Herausforderung und Gefahr, in solch umwälzenden Prozessen Menschen zu verlieren. Ich habe in den letzten Jahren viele Gespräche mit vielen Leuten geführt – Mitarbeitende, Ehrenamtliche, Angestellte, Pfarrer, Menschen, die an der Kirche interessiert sind … Machen wir uns nichts vor: Wir leben doch alle immer auch ein ganzes Stück mit dem Gewohnten. Und wir tun es gern. Das gibt uns Sicherheit. Nach meiner Wahrnehmung aber befinden wir uns in unserer Gesellschaft in weiten Teilen am Beginn eines „Kultur- und Klassenkampfs“. Wie sonst deuten Sie die immer häufiger auftretenden Störungen, die zu Krisen erklärt werden?! Dem kann sich eine Kirche in der Welt ja nicht entziehen, indem sie behauptet, alles sei weiterhin stabil. Das ist es nicht. Wollen wir bei den Menschen bleiben, müssen auch wir in einen Transformationsprozess einsteigen. Wir haben dabei zwei Dinge, die mich zuversichtlich machen: Wir haben einen Auftrag, der uns an die Menschen verweist und wir haben eine Verheißung, in all dem nicht alleine zu sein: Evangelium und Gottes Geist. Beide sind hochdynamisch. Wenn wir das wieder entdecken, dann führt uns das neu zu Menschen und Menschen neu zu uns. Insofern ist mir persönlich gar nicht bange, dass wir an der Aufgabe scheitern könnten. Wir haben das schon mal geschafft – damals mit der Reformation.
Wie geht es jetzt konkret weiter?
Guth: Der Dekanatssynodalvorstand hat sich dieses Prozesses im Dekanat vorbildlich angenommen: Er steuert, begleitet, motiviert und ermahnt auch bisweilen. Entscheidend ist: Er will es Gemeinden ermöglichen, die Umgestaltung zu schaffen. Schritt für Schritt. Dabei ändern wir zunächst die Rahmenbedingungen für unsere Arbeit: Personalanpassung, Gebäude, Kostenreduzierung und Leistungsverbesserung im Verwaltungsbereich. Parallel dazu beginnen wir mit den inhaltlichen Neubestimmungen: Neuordnung der Dienste, Vernetzung und Konzentration bestehender Angebote und den Versuchen, neue Formen zu entwickeln und zu erproben. Wir haben als Dekanat eine Familienbildung und in Kooperation mit den Johannitern das Geistliche Zentrum in Nieder Weisel. Wir müssen unsere Arbeitsfelder und Ressourcen aufeinander beziehen. Auf allen Ebenen. Und da darf auch mal was schief gehen. Fehlerkultur, die üben wir ebenfalls ein - auf allen Ebenen des Dekanats. Unser Zeitplan ist ambitioniert. Bis 2026 haben wir alle Parameter festgelegt. Und bis 2029 die weiteren Dinge als Dekanat in die Umsetzung gebracht. Und bis dahin fragen wir einander und andere immer wieder, ob wir noch auf dem gemeinsamen Weg sind.
Und was machen Sie jetzt mit den Erkenntnissen der Studie?
Guth: Wir werden uns in den Nachbarschaftsräumen darüber austauschen, wie es uns gelingt das Gute und Bewährte - das was den befragten Mitgliedern auch wertvoll ist - zu bewahren und zeitgemäß weiterzuentwickeln. Und daneben ist dieser unüberhörbare Wunsch der Befragten, dass Kirche sich ändern soll – in ihrer Struktur, im Blick auf Beteiligung und im Blick auf Arbeitsfelder. Hier gilt es behutsam abzuwägen und zugleich mutige Schritte zu gehen. Das bedeutet am Ende Transformation.