Dekanat Wetterau

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          Der Sturz des Corona-Christus

          Eine Betrachtung zu Karfreitag in ungewohnten Zeiten von Dekan Volkhard Guth

          ER stürzt sich vom Kreuz. Den Mund-Nase-Schutz wie einen Gleitschirm über sich haltend. Wie beim Absprung eines Bungeejumpers hat er sein Seil um die Fußfesseln geschlungen. Das Seil in Schlaufen hinter sich her ziehend. Es wird seinen Fall bremsen.

          Der Christus wird sein Kreuz nicht los werden.
          Da gehört er doch auch hin.

          Denn der Leidende am Kreuz ist ja Ausdruck von Gottes tiefster Sympathie für den Menschen. Sym-pathein, das heißt: mit-leiden. Der Christus am Kreuz ist einer, der mitleidet an dem verletzlichen und verletzten Leben von uns Menschen. Gerade da ist er zu finden, wo Menschen leiden – unter ihren Ängsten, unter den Erfahrungen von Gewalt – individueller, wie struktureller.

          Wenn ich ihn so betrachte, hat sein Sprung etwas Befreiendes!
          Beinahe schwebend kommt er auf mich zu. Auf den Betrachter. Mit weit ausgebreiteten Armen. Noch die Haltung des Gekreuzigten; aber mit einem Schirm in den Händen. So, als wollte er mir zurufen: Nagelt mich nicht fest auf das Kreuz an der Wand. Bindet mich nicht an eure theologischen Lehrsätze, Traditionen und Meinungen, nicht in eure alten gesungenen Kreuzeslieder und die immer neu aufgeführten Passionskantaten. Legt mich nicht fest mit den ästhetisch ausgefeilten und ausgewogenen Formulierungen eurer Texte und Liturgien.

          So stürzt er weg vom Kreuz hinein in unsere Welt.

          Der leidende Christus am Kreuz verlässt das Kreuz und stürzt sich in das Leiden der Welt. Eine Welt, die im Moment von der Corona-Pandemie gezeichnet ist. Eine Welt, in der Leiden in diesem Ausmaß längst nicht mehr zu unserer Erfahrung gehört haben. Katastrophen fanden doch immer woanders statt. Kollektive Härten kannten wir seit gefühlten Ewigkeiten bestenfalls aus den Medien.

          Und nun verfolgen wir täglich mit Schauern die Pressekonferenzen von Virologen, vergleichen die Zahlen Infizierter und Verstorbener. Werden Maß und Mitte und Vernunft zum Credo des empfohlenen Verhaltens.
          Plötzlich sehen wir Menschen an Beatmungsgeräten. Rücken uns Menschen nahe, die leiden, kämpfen - und sterben werden. Tote, die die Krematorien nicht mehr fassen können. Tote, die in Kühllastern zwischengelagert werden; Tote, deren Särge auf Militärlastern durch leere Straßen transportiert werden. Tote, die an den Rändern der Bürgersteige abgelegt werden.

          Es scheint, als ließe sich der Christus mit seinem Nase-Mundschutz-Fallschirm da hineinfallen. Als wolle er uns sagen: Sieh hin! All das Leid der Menschen in Krankheitszeiten, in den Bürgerkriegen, all die Katastrophen der brennenden Textilfabriken, die Flüchtlingslager, die einstürzenden Dämme und das quälende Sterben der Menschen, das du in den letzten Jahren auf deinem Flachbildschirm wie hinter einer Brandschutzmauer deines Wohllebens gesehen hast, all das kommt dir nun nahe.

          Die Sintflut findet nicht länger neben uns statt. Die Chaosmächte, gebannt und geordnet geglaubt, erreichen uns vor der Abschirmung unserer Bildschirme. Die Katastrophen sind nicht länger nur die Katastrophen der anderen.

          Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass wir kein Bewusstsein für die Wirklichkeit von Katastrophen entwickelt haben, weil wir uns immer abgeschottet haben davor. Wenn wir in den zurückliegenden Jahrzehnten auch in der Passionszeit vom Leiden gesprochen haben, dann war es das Leiden der anderen – weit weg.
          Der globale Süden wird einen höheren Preis zahlen als wir. Doch so gerne wir noch im Kippen oben wären, wir sind es nicht.
          Ohne es bemerkt zu haben, haben wir uns weitestgehend abgekapselt als Gesellschaft und als Kirche des Nordens.
          Unser gesamtgesellschaftliches Unverletzbarkeitsgefühl hatte uns zu prädestinierten Siegern gemacht, die auch die mission impossible schaffen können. Wer jahrzehntelang nur Kontinuität kennengelernt hat, wird immer darauf vertrauen, dass schon alles gut geht. Wir lebten allezeit im Vollkaskomodus.

          Der Corona-Christus wagt nun den Absprung.
          Hinein auch unsere Welt, durchkreuzt unsere Sichtweise und das Leben auf so unerwartete Weise, so wie wir es uns gemacht hatten und so wie wir diese Welt nun als brüchig und gefährdet erleben. 

          Denn es war nie gut, dass unsere Gesellschaft von Selbstverwirklichern und Selbstoptimierern in ihrem Inneren eine nach unten tretende ist, die immer brutaler und immer schneller diese Welt auslutscht und den Rest achtlos ausspuckt. Und wir mögen es dabei wie eine Kränkung empfinden, dass das Virus uns – zumindest was die Möglichkeit der Ansteckung betrifft – zu Gleichen mit jenen hat werden lassen, die wir bislang verachtet und zumindest doch als weit weg von uns gesehen haben.

          Es scheint, als spränge der Christus in der Corona-Krise vom angestammten Platz des Kreuzes an der Wand, um uns das Kreuz in der Welt zu zeigen.

          Wir werden das aushalten müssen. Bevor wir fragen nach Hoffnung und nach Transformation werden wir das erkennen und aushalten müssen. Am Karfreitag.
          Doch wir sind nicht alleine. Neben uns millionenfach die anderen. Der Nächste. Und mitten unter uns der eine. Der ganz Andere. Der Christus bei den Menschen. Auch und gerade in dieser Zeit.

          Der Christus in seinem Sturz vom Kreuz. Schwebend kommt er auf uns zu. Nehmen wir ihn und die Botschaft auf!?

          Pfr. Volkhard Guth, Dekan des Ev. Dekanats Wetterau

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